‚Nur nicht nervös werden… nur nicht…‘ murmelte Hans-Herbert vor sich hin und drehte unruhig und ohne es zu merken das kleine Paket (30x40x68 cm, 1.93 kg, Adressaufkleber rechts oben) hin und her.
Ursprünglich hatte er sich vorgenommen, nämliches Paket möglichst unauffällig während der Dauer der Straßenbahnfahrt einfach vorsichtig auf den zusammengepreßten Knien zu balancieren – nun zumindest unterbewußt hatte er das wohl gewollt.

Überhaupt war ihm nicht wohl, als eingefleischter Fußgänger und Fahhradfahrer war das Fahren mit der Straßenbahn seit Monaten wohl das bei weitem aufregendste Erlebnis schlechthin, sieht man mal von der um 1,5 Stunden verspäteten Lieferung der halbjährlich erscheinenden Vereinszeitung der örtlichen  Kakteenfreunde (mit Beiblatt, 3.Ausgabe, kostenfrei für Mitglieder) am Dienstag vor drei Wochen ab. Und dabei hatte er doch extra auf der Vereinsweihnachtsfeier darauf hingewiesen,
daß an bewußtem Dienstag sein Nachbar zu Besuch sein würde und er nicht ohne triftigen Grund gestört werden möchte.

Hans-Herbert seufzte.

Und dann diese Peinlichkeit mit dem Fahrschein! Seit Jahren lagen in dem kleinen kobaltblauen Schälchen, das seine Frau Erna immer so mochte (Gott hab‘ sie selig) nebst ein paar Groschen für das Münztelefon ein Fahrschein (Erwachsener,
Einzelfahrt, für Bus und Bahn gültig im Stadtgebiet), nur für den Fall der Fälle… und dieser Fall war ja nun eingetreten.

Hans-Herbert seufzte nochmal, als er sich 20 Minuten zurückerinnerte.

Nachdem er nach etwas Suchen den Entwerter in der Bahn gefunden hatte und auch das Problem gemeistert hatte, daß kein Hebel zum Drücken da war („einfach reinstecken Opa!“ hatte ein neunmalkluger Knirps im grinsend geraten), versuchte sich Hans-Herbert möglichst unauffällig zu verhalten und setzte sich auf einen Einzelplatz (Fensterreihe, rechts, für Schwerbehinderte bitte freimachen, aber es war ja keiner da, vorsichtshalber hatte er 1 Minute gewartet und allen Umstehenden den Platz angeboten). Und dann kam der Kontrolleur.

Und erklärte ihm, daß DM-Fahrscheine keine Gültigkeit mehr hätten und ob er (Hans-Herbert) ihn vereiern wolle!? Hans-Herbert verneinte natürlich artig und wies darauf hin, daß sonst nur seine Frau Erna (Gott hab sie selig) mit der Tram gefahren sei. Schon bei dem Begriff „Tram“ zuckte der Beamte zusammen und als es ihm langsam dämmerte, daß Hans-Herbert jetzt wohl zu einer ausführlichen Erläuterung sämtlicher Umstände (unter Auslassung seiner Geburt und der Jahre, bevor er und seine Erna in die Stadt gezogen waren) ausholte, sagte er freundlich, wenn auch mit etwas Panik im Blick: „Laß man jut sein Opa, macht 1  Euro fuffzich“ und hielt ihm einen neuen Fahrschein hin (Erwachsener, Einzelfahrt, für alle Beförderungsmittel der Vehrkehrsbetriebe zugelassen, nicht ermäßigt, max. 90 Minuten
pro Fahrt).

Zögernd tastete Hans-Herbert in seiner Sacko-Tasche nach dem nun schon etwas zerknautschten Fahrschein… ja: er war noch da. Puh.

Wo mußte er doch gleich nochmal raus? Das war nämlich das nächste Problem, laut seinem Plan hielt die Straßenbahn gleich an der Hauptpost, aber der Beamte der Verkehrsbetriebe hatte noch lakonisch im Nebensatz gesagt: „… da müssen Sie aber noch am Hasselbachplatz umsteigen, das wissen Sie aber, oder?“.

Mechanisch hatte Hans-Herbert genickt.

Ob er die Mutter mit Kind auf dem gegenüberliegenden Platz mal fragen sollte? Sie sah eigentlich ganz nett aus und würde bestimmt nicht gleich … wie sollte sie auch, sie kannten sich ja nicht und würden sich auch ganz bestimmt nie im Leben… obwohl sag niemals nie…

Oje – so kam er nicht weiter. Hans-Herbert seufzte nochmal und sah aus dem Fenster.

 

Teil 2

‚Nur nicht nervös werden… nur nicht…‘ murmelte Hans-Herbert vor sich hin und konnte doch nicht verhindern, wachsende Panik zu bemerken, die immer dreister unter seinem Hemdkragen hervorlugte.

Wieso hatte er nicht doch die junge Frau mit dem Kinderwagen gefragt, wo denn nun die Straßenbahnhaltestelle „Hasselbachplatz“ sei…

Hans-Herbert sah auf die Uhr. Das war nun schon gut zwei Stunden und zwei weitere in unterschiedlichen Straßenbahnen gekaufte Fahrscheine her. Zwei Stunden! Zuerst hatte er ja gedacht, das ewige Fahren und nicht wissen wo man ist wäre schlimm – aber als er dann noch vor Ablauf des dritten Fahrscheins nach mehrmaligem Umsteigen und planlosen Umherirrens entnervt an dieser Station ausgestiegen war, begannen die Ereignisse sich förmlich zu überschlagen.

Er hätte doch nicht die Currywurst mit einer Portion Pommes sowie extra Ketchup und Majo essen sollen, sondern gleich mit der nächsten Tram von hier verschwinden sollen! Die überall postierten Polizisten hätten ihn viel früher stutzig machen sollen, fand er jetzt.

Wer kann denn auch ahnen, dass sich innerhalb von 20 Minuten die verträumt daliegende Straßenbahnhaltestelle in ein Tollhaus verwandeln würde, hielt er in Gedanken dagegen…

Hans-Herbert seufzte und versuchte verzweifelt, sich durch unauffälligen und möglichst höflichen Einsatz seiner Ellbogen etwas mehr Platz im Gedränge zu verschaffen, gab es aber nach mehreren erfolglosen Versuchen entmutigt auf und stellte sich zum wiederholten mal auf Zehenspitzen um zu sehen, was da vor sich ging

„BITTE BLEIBEN SIE RUHIG!“
„VERLASSEN SIE AUF KEINEN FALL DEN MARKIERTEN WEG!“
„BEGEBEN SIE SICH DIREKT UND OHNE UMWEGE IN DIE BEREITGESTELLTEN STRASSENBAHNEN!“

Die Megafonstimme aus knapp drei Metern Entfernung schnitt sich durch Hans-Herberts Nervenkostüm wie ein heißes Messer durch eine Portion schon stark angetautes Speiseeis und während er sich innerlich zusammenkrümmte klapperten seine Zähne im Rhythmus der sich an den Häuserwänden brechenden Echos.

Weg! Er musste hier weg!

Ohne den Umweg über sein Gehirn zu nehmen setzte diese Erkenntnis wie von selbst seine Beine in Bewegung und mit mehreren hastig hervorgebrachten „Verzeihung!“ … „Entschuldigung, könnte ich…“ und „Tut mir leid!“ bahnte er sich in einem unter anderen Umständen wohl eher als komisch zu bezeichnenden Zickzacktanz einen mehr oder minder zielgerichteten Weg durch die aufgestauten Menschenmassen und kam stolpernd und nach Luft ringend endlich auf einem freien Stück Strasse an – hinter sich das Gemurre der Leute, denen er auf die Füße getreten war und vor sich…

Verdutzt blieb er stehen und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Reihe der hochgehobenen Schilde der Polizisten, die heruntergeklappten Visiere – ein menschlicher Zaun, hinter dem sich genauso viele „Zivilisten“ drängelten wie auf „seiner“ Seite.

Eine hastig ausgeführte 180°-Drehung zeigte ein nur in Details abweichendes Bild und von einer Lücke, durch die er ja wohl gekommen sein musste, war auch nichts zu entdecken…

„HE! SIE DA! VERLASSEN SIE SOFORT(!) ….“

Der Rest der hervorgebellten, aber wahrscheinlich sogar besorgt gemeinten Anweisung ging im Gejohle des Mobs unter, der um die Ecke gebogen war und von jetzt auf gleich gab Hans-Herbert eine noch jämmerlichere Figur ab als vorher.

Damit meine ich nicht seinen mittlerweile zerknautschten Trenchcoat mit den Curry- und Majoflecken, an den er das Postpaket (30x40x68 cm, ca. 1.93kg, Adressaufkleber rechts oben) presste.

Man stelle sich eine Büffelherde auf der Flucht vor.

Inmitten der Büffel ein völlig orientierungsloser Büffeljäger ohne Pferd, der nur versucht, ein Paket zur Post zu bringen…

In jedem schlechten Western wäre die Szene in Zeitlupe und bedrohlicher Lautlosigkeit gedreht worden.

In Hans-Herberts Realität sah das anders aus.

Schweiß. Ohrenbetäubender Lärm. Überlebenskampf.

Hans-Herberts jämmerliche Versuche, dieser Situation zu entkommen, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sekunden später stand er erstaunlicherweise unverletzt in einer brechend vollen Straßenbahn, um sich herum lauter aufgekratzte und Unverständliches grölende Fußballfans.

Die Straßenbahn fuhr los. Hans-Herbert sah auf die Uhr. Panik kroch in ihm hoch: sein Fahrschein galt nur noch 7 Minuten und es er wusste nicht, wohin die Bahn fuhr und ob sie bis dahin noch mal anhalten würde…

Ein tiefer Seufzer (der wievielte wohl heute?) entrang sich seiner Brust und machte langsam der Erkenntnis platz, dass es ja wohl schlimmer nicht werden konnte.

Sein persönliches Schicksal jedoch wusste von dieser Erkenntnis nichts oder wenn doch, dann ignorierte es diese einfach und sorgte etwa 15 Minuten später dafür, dass einer der Polizeibeamten, der die Fangruppe am Hauptbahnhof in Empfang nahm und zu den schon wartenden Zügen dirigieren sollte, das leicht zerknautschte Postpaket in Hans-Herberts Händen sah.

Ein offensichtlich übertrieben harmlos wirkendes Postpaket. Getragen von einem versuchsweise korrekt gekleideten älteren Herren, der unter normalen Umständen durchaus einen seriösen Eindruck gemacht hätte, vorausgesetzt er hätte nicht diese wirren Haare, diese panisch blickenden Augen und diese blutroten Flecken auf seinem Trenchcoat gehabt. Hans-Herbert passte so überhaupt nicht in das Bild des gemeinen Fußballfans. Oder um es deutlicher zu formulieren: er stach daraus hervor wie ein Leuchtturm bei Neumond.

Und er trug dieses Paket in Richtung Hauptbahnhof…

Es machte mehrmals in unterschiedlichen Zeitabständen vernehmlich „KLICK“ und der Polizeibeamte – nennen wir ihn Paul-Gustav (was selbstverständlich nicht sein richtiger Name war, der unterliegt der Geheimhaltung) – nun um mehrere gefallene Groschen ärmer, fischte den orientierungslos in der Menge treibenden Hans-Herbert kurz vor dem Eingang zur Haupthalle in Teamwork mit zwei Kollegen aus dem in Wellen vorbeiflutenden Fußballfan-Strom heraus ließ ihn aufs Revier verbringen.

Eine Stunde und 40 Minuten später hatte der örtliche Sprengstoffexperte alle 39 Bestandteile des Postpakets untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass das Paket absolut zugelassen für den Transport mit der Deutschen Bahn sei und dafür noch nicht einmal verschärfte Sicherheits- oder Schutzmassnahmen ergriffen werden müssten. Auch die chemische Analyse der Flecken auf Hans-Herberts Trenchcoat wirkte sich positiv auf seine Gesamtverweildauer auf dem Polizeirevier aus, aber davon ahnte Hans-Herbert vorerst noch nichts, aber vermutlich hätte es ihn erleichtert.

In der Zwischenzeit hatte Hans-Herbert mehrere und in ihrer Ausprägung unterschiedliche Gefühlsausbrüche hinter sich und schon 11 der insgesamt 18 der für diesen Fall vorgesehenen Protokolle ausgefüllt – nicht ohne hin und wieder zu seufzen und wenigstens versuchsweise zu zetern und zu murren.

Er tat es aber nur ganz leise, da es ihm jedes Mal einen strengen und missbilligenden Blick des diensthabenden Polizeiobermeisters einbrachte, der mit routinierter 1,5-Finger Tippmethode nebenbei die Details zu Hans-Herberts bisherigen Erlebnissen zu Papier brachte.

Beim anschließenden etwa 30 Minuten dauernden Abschlussgespräch bekam Hans-Herbert sogar eine Tasse lauwarmen Kaffee nebst einigen guten Ratschlägen für ein in Zukunft etwas unauffälligeres Verhalten in der Öffentlichkeit, er konnte zu seinem großen Leidwesen jedoch die Beamten trotz aller Versuche nicht davon überzeugen, ihn gleich bei der Hauptpost abzusetzen und so stieg er 10 Minuten später niedergeschlagen und seufzend direkt vor dem Hauptbahnhof aus dem Streifenwagen aus und ließ sich gegen Quittung sein größtenteils originalgetreu zusammengesetztes Paket wieder aushändigen, presste es einigermaßen erleichtert an sich und wandte seine Schritte nach kurzem Überlegen und dem Befragen mehrerer Passanten in die seiner Meinung nach wahrscheinlichste Richtung, in der die Hauptpost liegen musste.

Hans Herbert umging dabei sorgsam die seinen Weg kreuzenden Straßenbahnhaltestellen und er und sein Postpaket versuchten jeweils beim Anblick eines Polizeibeamten einen möglichst lockeren, fröhlichen und ungefährlichen Eindruck auf diesen zu machen.

Hin und wieder, wenn er sich hinlänglich unbeobachtet fühlte, gestattete er sich einen niedergeschlagenen Seufzer oder schüttelte seinen Kopf und murmelte „Na so was!“.

Fortsetzung folgt.